Tidstrands und Lagans legendäre Wolldecken

Da die meteorologische Achterbahn weitergeht und hier in Wien derzeit kühle Sommerabende angesagt sind, greife ich zur Wolle: Reine Schurwolle ist das Material, aus dem diese schwedischen Decken und Plaids gemacht wurden, der Großteil davon im Hause Tidstrand.

Tidstrands Yllefabrik war eine Zeit lang Europas größter wollverarbeitender Betrieb. Der Grundstein wurde 1896 von Axel Ludvig Tidstrand (1871-1948) in Falun in Dalarna gelegt. Axel Ludvig Tidstrand selbst hatte schon mit 13 Jahren in einer Wollspinnerei gearbeitet. Mit 21 Jahren machte er sich mit einem Partner in Hedemora mit einer kleinen Wollfabrik selbständig. Bald wollte Tidstrand vergrößern und inserierte nach einem Wasserfall. In dem kleinen Örtchen Sågmyra in Dalarna wurde er fündig, kaufte Wasserfall und Grund und baute seine eigene Fabrik, die zuerst Falu Yllefabrik hieß.

Diese erste kleine Fabrik war in Holzbauweise errichtet, Axel Ludvig Tidstrand und seine Frau Ellen Berg richtete sich dort unterm Dach ein. Sechs Leute waren angestellt. Die Produktion lief gut, ein zweites Holzhaus wurde angebaut, 1903 schließlich wurde das nahegelegene Nickelwerk gekauft und die Wollfabrik dorthin verlegt. Neben der Wollverarbeitung gehörten zu Tidstrands Yllefabrik ein kleines Kraftwerk, ein Sägewerk und eine kleine Landwirtschaft. Der komplette Industriekomplex sah so aus:


(Foto: Calle Eklund)

Heute beherbergen die ehemaligen Fabrikshallen ein Einkaufszentrum.
Fabriksbesitzer Tidstrand ließ von 1918-22 ein standesgemäßes Haus für sich und seine Familie errichten, das heute als Café fungiert:


(Foto: Calle Eklund)

Axel Ludvigs Bruder Axel Leonard hatte sich ebenfalls dem Wollgeschäft verschrieben und 1914 ein neu gebautes aber leer stehendes Fabriksgebäude in Lagan gekauft, in dem er Smålands Yllefabrik AB gründete, die später in Lagans umbenannt wurde. Nach Axel Leonards frühem Tod 1915 half sein Bruder beim Auf- und Ausbau der Fabrik, später übernahmen Axel Leonards Söhne Henry und Gunnar Lagans Yllefabrik. Die 1930er Jahre waren für Lagans höchst erfolgreich, das Sortiment umfasste neben Wolldecken v.a. Steppdecken, Wattierungen und Matratzen:

In Sågmyra waren bei Tidstrands Yllefabrik um 1950 etwa 1000 Menschen angestellt (zum Vergleich: heute zählt der kleine Ort Sågmyra etwa 730 EinwohnerInnen). Das Unternehmen gehörte damit zu den erfolgreichsten und größten Wollfabriken Europas, Fabriksbesitzer Tidstrand war quasi landesweit als Sågmyrakungen (König von Sågmyra) bekannt. Er war aber nicht nur gewinnorientiert sondern auch sozial engagiert und ließ für die Fabriksarbeiterinnen und -arbeiter Sportplätze (Tennis, Eishockey, Curling,…) und ein Schwimmbad bauen, er unterstütze sie beim Wohnungs- oder Hausbau, ließ Kinderkrippen errichten und für die Unverheirateten einen Speisesaal. Auch das soziale Engagement für die Lagans-FabriksarbeiterInnen in Småland sah ganz ähnlich aus.

Schwerpunkt der Tidstrand-Produktion waren Decken und Plaids, Wollstoffe, Autostoffe (v.a. für VOLVO) und Wollgarne. Hier eine Auswahl an Wolldeckenmustern, wie sie im Tidstrand-Museum in Sågmyra zu sehen sind:


(Foto: http://enomakakaffekopp.blogspot.co.at)

Die große Textilkrise (*), die von den 1950ern bis 70ern Schwedens Textilindustrie erschütterte und ca. 70.000 Arbeitsplätze betraf, sollte Axel Tidstrand nicht mehr erleben. Nach seinem Tod 1948 übernahmen seine Söhne Ragnar und Sven die Fabrik, seine Tochter Ann-Charlotte wurde etweas später Geschäftsführerin. Sie engagierten Designerinnen und Designer, die v.a. im Decken- und Plaidbereich viele schöne Entwürfe lieferten, die noch heute begehrt und gesucht sind. Viola Gråstens (1910-1994, SF/S) gestreifte Decken sind am bekanntesten. Über die Jahre wurden viele schöne Farbzusammenstellungen komponiert – orange, rot, violett, petrol, blau, smaragdgrün, braun, natur, hellgrau. Nachträglich wurde der großen Größe (220×160), die als Bettüberwurf oder Bettdecke gedacht ware, der Name Snark (Schnarch) verpasst. Die Plaidgröße (140×160) hatte Fransen:

Auch dieses Plaid in Naturtönen ist ein Entwurf Viola Gråstens:

Tidstrands Yllefabrik war königlicher Hoflieferant, was natürlich am Etikett vermerkt war, auf dem auch immer die Namen der DesignerInnen standen.

Neben Gråsten waren weitere bekannte Namen Inez Svensson (1932-2005, S), Sigvard Bernadotte (1907-2002, S), Kerstin Albrektsson (S), Lena Rewell (SF) u.a.
Sigvard Bernadottes Decke dürfte ein Entwurf aus dem Jahr 1953 sein und wurde in den Farben Blaugrün, Dunkelgrün, Hellblau, Hellgrün, Beige und wie hier in Marineblau hergestellt:


(Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Sigvard Bernadotte, der ja wegen seiner bürgerlichen Heirat seinen Prinzentitel verloren hatte, einem königlichen Hoflieferanten zuarbeitete…)

Von der finnischen Designerin Lena Rewell stammt diese Decke. Rewell entwarf auch unter ihrem eigenen Namen eine Vielzahl sehr farbenprächtiger Decken, Hauben und Schals, oft mit Mohairwolle, und diese leuchtende Farbkombination hier ist sehr typisch für ihre Arbeiten:

Entwurf von Monica Jonsson:

Entwurf von Kerstin Albrektsson:

Entwurf von Christina Westman, ca. 1972:

Die Wolldecken galten als robust, waren maschinwaschbar und wegen ihrer breiten Farbpalette und der ansprechenden Webmuster sehr beliebt. So fanden sie sich in den meisten Haushalten und in vielen Jugendherbergen und Hotels wieder. Doch trotz dieser – an der Popularität der Produkte gemessen – erfolgreichen Periode wurde Tidstrands Yllefabrik ein Opfer der Textilkrise und musste 1976 schließen.

Ann-Charlotte Tidstrand zog in die französischsprachige Schweiz und etablierte dort unter dem Namen Tidstrand ein wollverarbeitendes Unternehmen, das Decken und Jacken herstellte, mittlerweile aber auch nicht mehr existiert.

Nachtrag:
Irgendwann in den 1960/70ern warb Tidstrand mit einem kleinen Mädchen, das bis zum Kinn in eine rote Wolldecke eingewickelt war und zu dessen Füßen eine Katze hervor lugte. Der Slogan dazu lautete „Lyckan är en varm filt“ – „Glück ist eine warme Decke“:


(Foto: Benny Movarp)

Vielleicht war dies eine Abwandlung von Charles Schulz‘ Peanuts-Geschichte „Happiness is a warm puppy“ von 1962. Wie dem auch sei, seit einigen Jahren gibt es einen Peanuts-Film mit dem Titel „Happiness is a warm blanket“ (hier über Youtube eingebettet):

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(*): Billigere Produktionsbedingungen etwa in Asien, ungünstige Zollverhältnisse (niedrige Einfuhr- vs. hohe Ausfuhrzölle), der Synthetikstoff-Boom sowie die schwedische Situation von vielen kleinen Textilherstellern mit vielen und häufig wechselnden Kleinstkollektionen führten zu einer massiven Krise in der schwedischen Textilindustrie. Zusätzlich wurden die Löhne und andere Betriebskosten innerhalb von 3 Jahren um 30-50% erhöht, was für viele Unternehmen das Aus bedeutete.

Quellen:

www.sagmyra.se/axel-tidstrand
http://lagan.se/ylle.html


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