Orrefors: Bleikristall der 1930er bis 40er

Orrefors war eine der ganz großen Glashütten Schwedens. 1726 als Eisenwerk beginnend, wurde an dessen Stelle 1898 die Orrefors Glasmanufaktur von Johan August Samuelsson gegründet. Beinahe mehr aus Zufall heraus, eigentlich eher, um die Holzabfälle der Waldbewirtschaftung gewinnbringend zu nutzen, wurden hier zwei Glashütten errichtet. Das Fortbestehen einer der beiden Glashütten Jahre später war dem Unwillen des damaligen Besitzers Johan Ekman geschuldet, der bei der Übernahme 1913 nicht mehrere Dutzend Arbeitsplätze und ein gut funktionierendes Werk schließen wollte. Und der, gemeinsam mit seinem Verwalter Albert Ahlin, schließlich der Faszination der Glasherstellung verfiel.


Ein Glasmeister treibt einen Kelch (Foto: John Selbing)


Das Eisenwerk Orrefors um 1890, mit Hammerschmiede und Hochofen (Foto: Orrefors Glasbruk)


Die Orrefors Glashütte in den 1920er Jahren (Foto: Smålands museum)

Hatte Ekman noch eine Produktionspalette von ausschließlich simplem Gebrauchs- glas wie Flaschen, Konservengläsern, Tintenfässchen, Parfumfläschchen, Trinkgläsern etc. übernommen, so legten er und Ahlin durch ihr Bestreben, dem Sortiment eine künstlerische Ausrichtung zu geben, den Grund für grandiose Jahrzehnte der Glasproduktion. Virtuose Glasbläsermeister wie etwa Knut Bergqvist (1873-1953) entwickelten in gemeinsamer Arbeit mit den künstlerischen Zeichnern und Gestaltern völlig neue, sehr aufwändige Techniken. Diese künstlerischen Gestalter waren um 1930 etwa Vicke Lindstrand (1904-83, seit 1928 bei Orrefors), Edvin Öhrström (1906-94, seit 1936 bei Orrefors), Sven Palmqvist (1906-84, seit 1928 bei Orrefors) und Nils Landberg (1907-91, seit 1925 bei Orrefors).
Doch nicht um die schillernden Meisterwerke in hochkomplizierten Techniken wie Graal, Ariel, Kraka oder Ravenna soll es hier gehen, sondern um schlichtes Bleikristall ohne Über- oder Unterfang, ohne eingearbeitete Blasen und ohne Gravuren. Hier wirken alleine die Form und die Oberfläche des Glases, das Licht spielt mit.

Farbloses Glas mag simpel erscheinen. Wie schwierig es jedoch ist, die Zusammensetzung der Glasmasse aus Sand, Pottasche, Bleioxid und weiteren Bestandteilen sowie die chemischen Reaktionen dieser Ingredienzien so zu steuern, dass Glas überhaupt farblos und klar wird, kann hier nachgelesen werden.

Säurebehandeltes Bleikristall

Eine säurebehandelte Glasoberfläche kann wie bei Vicke Lindstrands ab 1933 entwickelter Serie Isat (geeist) frostig wirken:



Schnapsgläser


Grapefruit- od. Martiniglas (Isat 154/16)

Mit diesem Bitter-Fläschchen mit eingeschliffenem Stöpsel samt Schüttloch kann man sich den Drink besonders stilvoll aromatisieren (Isat 154/43):

Die Kugelvase – eine der vielen Vasenformen der Serie:

Vase (Isat, 154/37)

Die Isat-Serie bestand aus etwa 60 verschiedenen Teilen: Barzubehör wie Shaker, Eiskübel, diverse Gläser, Karaffen und Fläschchen, Raucherzubehör, Vasen, Kerzenhalter, Käseglocken, Essig- und Ölkännchen, Servier- und Anbietschalen, Schüsseln, Messerbänkchen, Mokkatassen, Flakons, Deckeldosen, Tisch- glocken,… Allen Teilen war eine sehr schlichte Form gemeinsam, und häufig auch eine Dickwandigkeit des Glases. Trinkgläser wurden selbstverständlich sehr dünnwandig gearbeitet.

Klares Bleikristall

Edvin Öhrström scheint darunter gelitten zu haben, dass aus Gründen der Nachfrage – besonders aus dem Ausland – viel graviert wurde. Ihm als von der Skulptur Kommendem war das Material Glas Ausdrucksmittel genug. Für die folgenden Glasobjekte ließ er der hohen Lichtbrechungsfähigkeit und dem klaren Wasserblau des Bleikristalls den Vorrang:


Flache Schale von 1939 (Modellnr.: FU 1988)


Schale od. Vase von 1937 (Modellnr: FU 1776)



Deckeldose

Besondere Betonung als Material erfuhr die Glasmasse in diesem Flakon von ca. 1936. Der Hohlraum erhält hier große Präsenz. Beinahe wie bei einem Kippbild sieht man entweder das tropfenförmige Innere oder die massive bullige Glashülle. Durch gekonnte Brechung der Lichtstrahlen scheint der Hohlraum zudem im unteren Drittel von Wand zu Wand zu reichen, doch das täuscht (und ist auf diesem Foto aufgrund der Beleuchtung nur zu erahnen):

Orrefors heißt übersetzt „Birkhuhn-Stromschnelle“, das Unternehmen trug zumindest seit den 1920ern diesen Vogel im Logo. Das Klebetikett, das von den 1920ern-50ern für 1. Wahl-Objekte aus Bleikristall eingesetzt wurde, war graublau mit goldenem Aufdruck:

Bei dieser Vase aus Öhrströms Feder mussten  der Schleifer und der Polierer ans Werk. Das Ergebnis war eine exakt gearbeitete, durch den Schliff vergrößerte und vielfach brechende Glasoberfläche:


Vase (Modellnr.: 2092/7)

Ganz anders mutet da Sven Palmqvists hohe Vase an, die innen entlang von vier senkrechten, fast nur angedeuteten Kerben sehr weich in große Felder facettiert ist. Die Öffnung ist leicht quadratisch geformt, der Fuß ist rund:

Vase (Modellnr.: 2375)
Die Milchigkeit im unteren Bereich der abgebildeten Vase ist eine Folge des häufigen Einsatzes für Schnittblumen: Die chemischen Bestandteile von Wasser und Glas reagieren bei Dauerkontakt, es kommt zur sog. Glaskrankheit. Diese Veränderung ist nur durch Polieren mit feinstem Poliersand behebbar. Es handelt sich nicht um Kalkablagerungen, die etwa durch Essig ablösbar wären. Die Milchigkeit wird jedoch unsichtbar, wenn Wasser eingefüllt ist.

Sowohl Vicke Lindstrand als auch Nils Landberg entwarfen sehr ähnliche Flakons, einem von ihnen kann vermutlich dieser mit rundum laufendem Keilschliff versehene Flakon zugeschrieben werden:

Nils Landberg schuf etwa 1941 diese Karaffe (Modellnr. NA 2496), das beigestellte Glas wurde ca. 1939 von Vicke Lindstrand (LU 2063) entworfen:

Karaffe (Modellnr.: NA 2496), Glas Kalmar Union (Modellnr.: LU 2063)

Nach etlichen Besitzerwechseln übernahm 2005 die New Wave Group das Traditionsunternehmen, mit dem Ziel, den Umsatz zu steigern. Dies gelang der neuen Leitung nicht, 2013 wurde der letzte Ofen stillgelegt, die Glashütte geschlossen. Die Marke Orrefors besteht weiter, das Glas wird jedoch nicht mehr in Schweden hergestellt. In Schweden produziertes Orrefors-Glas ist damit Geschichte.

 

Hinweis:

Die als Entstehungsjahr der gezeigten Objekte angeführten Jahresangaben sind der unten angeführten Katalogsammlung von Ricke & Thor entnommen, und also als jene Jahre zu verstehen, in denen die Entwürfe (vermutlich) erstmals in Werkskatalogen präsentiert wurden. Die Entwurfsarbeiten setzten naturgemäß früher an und erstreckten sich häufig über mehrere Jahre.

 

Literatur:

Ann Marie Herlitz-Gezelius: Orrefors. Ett svenskt glasbruk. (Bokförlaget Atlantis AB, 1984)

Bertil Palmqvist: i Glasrike (Natur och Kultur, 1979)

Helmut Ricke und Lars Thor (Hg.): Schwedische Glasmanufakturen. Produktionskataloge 1915-60. Orrefors, Kosta, Elme, Eda, Strömbergshyttan (Prestel-Verlag München, 1987)

Elisa Steenberg & Bo Simmingsköld: Glas (Natur och Kultur, keine Jahresangabe)

Lars Thor: Legend i glas. En bok om Vicke Lindstrand. (LiberFörlag, 1982)

Kerstin Wickman (Hg.): Orrefors. Etthundra år av svensk glaskonst. (Byggförlaget Kultur, 1998)

 

 


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